Von Nächsten und Geringsten
Von Nächsten und Geringsten: Wie aus einer Wohnungssuche eine Beziehung entsteht
Nach einem langen, intensiven Arbeitstag einer anstrengenden Woche komme ich am Abend nach Hause und freue mich auf die Zeit mit der Familie. Ruhig wird der Abend sicher nicht, denn meine drei Töchter empfangen in der Regel ihren Papi mit grossem Mitteilungsbedürfnis. Doch heute ist es anders. Meine Frau empfängt mich mit den Worten: „Ciao Amore, schon so spät? Das sind Jordanus und Mengis, sie suchen eine Wohnung. Kannst du mit ihnen das Bewerbungsformular ausfüllen, dann kümmere ich mich um das Abendessen.“ Eigentlich hatte ich mir meinen Feierabend anders vorgestellt. Aber weil ich meine Frau und Jesus liebe und weil wir dafür beten, dass Gott uns Möglichkeiten schenkt, seine Liebe praktisch weiterzugeben, setze ich ein etwas gequältes „Herzlich willkommen“-Lächeln auf.
Jesus fordert uns in Matthäus 25, 40 heraus: „Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.“ Die Gelegenheiten dafür kommen meist ungelegen, sie passen nicht in unsere durchgetaktete Agenda. Ich begrüsse also das eritreische Ehepaar, deren kleines Baby auf einer Decke im Wohnzimmer liegt.
„Wohnung klein, keine Arbeit.“
Mir sitzen zwei vom Leben und der Flucht vor dem Militärregime gezeichnete Menschen gegenüber. Es stellt sich heraus, dass Jordanus seit vier, Mengis seit zwei Jahren in der Schweiz sind. Ich frage sie, warum sie eine neue Wohnung suchen: „Weisst du, Wohnung klein, keine Arbeit. In Brugg mehr Arbeit.“ Aha. Sie wollen umziehen, weil sie bei uns in der Region keine Arbeit finden. Meine Motivation steigt. Nach der dritten Zeile verstehe ich, dass die beiden Hilfe brauchen. Dieses Formular ist für Schweizer schon eine Herausforderung. Wenn Tigrinya deine Muttersprache ist, ist das völlig aussichtslos.
Eine Stunde und viele umständliche Erklärungen später ist das Formular ausgefüllt. Mein Magen knurrt mittlerweile hörbar. Doch als ich Gefahr laufe, wieder in mein Selbstmitleid zurückzufallen, überlege ich mir, dass meine Gegenüber auf ihrer Flucht möglicherweise ganz anderen Hunger erlebt haben. Das hilft. Bei der Verabschiedung drücken sie aus vollem Herzen aus, wie dankbar sie sind. Ich wünsche ihnen viel Erfolg mit der Wohnungsbewerbung und frage, wie viele Schweizer sie denn ausser uns kennen. Sie schauen zuerst sich fragend an, dann mich und sagen: „Niemanden.“
Diese Not berüht mich und macht mich traurig: Wie wollen wir all die Migranten in unsere Gesellschaft integrieren, wenn sie keinen Kontakt zu Schweizern haben? Ich frage mich, wo die Nachfolger von Jesus sind, die Matthäus 25, 40 leben. Und ich bin froh, dass ich an diesem Abend nicht auf meine Bedürfnisse gehört, sondern meine Nächsten wahr- und ernstgenommen habe.
Keine Wohnung, dafür eine Beziehung
Die Beiden haben zwar die Wohnung nicht bekommen, aber es ist eine Beziehung entstanden. Einige Wochen später waren wir an den ersten Geburtstag ihrer Tochter eingeladen – um 14:00 Uhr an einem Samstagnachmittag. Meine Frau und ich waren uns einig, dass wir nur kurz vorbeischauen. Natürlich hatten wir vorher ausgiebig zu Mittag gegessen und erwarteten ein kleines Dessert-Buffet. Natürlich waren wir pünktlich, und damit die einzigen. Die rund zwanzig anderen Gäste kamen später, alle Eritreer. Es folgte ein ausgiebiges eritreisches Essen, viele herzliche Gespräche, Kuchen, Dessert, … Nach einigen Stunden gingen wir mit vollem Bauch und noch volleren Herzen wieder nach Hause. Wir sind dankbar, dass wir nun seit zwei Jahren mit dieser Familie unterwegs sein dürfen. Und als ich letzte Woche nach einem langen, intensiven Arbeitstag einer anstrengenden Woche am Abend nach Hause komme, steht ein Teller mit eritreischem Essen an meinem Platz: Jordanus hat meiner Frau bei ihrem Besuch ein Abendessen für mich mitgegeben. In dem Moment frage ich mich, wer jetzt der Geringste ist.
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